Vorläufer-Stadien der Multiplen Sklerose
Am LMU Klinikum in München wurden Immunzellentypen identifiziert, die mutmaßlich an der Entstehung von Multipler Sklerose beteiligt sind.
Obwohl schon viele „Einzelschritte“ der Krankheitsentstehung von Multipler Sklerose (MS) aufgeklärt sind, bleiben die krankheitsauslösenden Mechanismen – und somit die „Ursache“ der MS – rätselhaft. Eines der größten Hindernisse für die Ursachenforschung besteht in der Tatsache, dass die MS erst dann diagnostiziert werden kann, wenn die ersten Symptome wie beispielsweise Sehstörungen, Gefühlsstörungen oder Lähmungen auftreten. Zu diesem Zeitpunkt sind aber die autoaggressiven Attacken des Immunsystems auf das Gehirn längst in vollem Gange. Dies weiß man, weil in seltenen Fällen MS-typische Veränderungen als stumme Vorboten der MS zufällig in kernspintomografischen Untersuchungen (MRT) des Gehirns entdeckt werden.
Am Institut für Klinische Neuroimmunologie am LMU Klinikum (Dornmair Lab) wurden nun die frühesten überhaupt erfassbaren Stadien der MS mithilfe der „Nationalen Zwillingskohorte“ untersucht. Die Zwillingskohorte umfasst 78 eineiige Zwillingspaare, die zwischen 21 und 50 Jahre alt sind und bei denen jeweils ein Zwilling an MS erkrankt ist, während der andere Zwilling nach klinischen Kriterien völlig gesund ist. Allerdings haben die gesunden Zwillingsgeschwister ein hohes familiäres Risiko, an MS zu erkranken. Deswegen bieten diese Personen die einmalige Chance, die allerfrühesten Stadien der MS-Entstehung zu untersuchen.
Die Bedeutung des Erbgutes wird durch Beobachtungen an eineiigen Zwillingen (die ein identisches Erbgut haben) bestätigt: Wenn ein Zwillingsgeschwister (Bruder oder Schwester) an MS erkrankt ist, beträgt das Risiko, dass auch die Zwillingsschwester/der Zwillingsbruder erkrankt ist, etwa 20 %. Bei zweieiigen Zwillingen (die ein unterschiedliches Erbgut haben) ist das Risiko, dass beide an Multipler Sklerose erkranken, deutlich geringer (ca. 5 %).
Tatsächlich zeigten einige der klinisch gesunden Zwillinge in der MRT bzw. im Liquor (Nervenwasser, Zerebrospinalflüssigkeit) MS-typische Veränderungen, sie hatten also Anzeichen einer subklinischen Neuroinflammation (SCNI). Mittels der als RNA-seq bezeichneten Methode wurde das Transkriptom, also die Gesamtheit der aktiv ausgelesenen Gene, von insgesamt 2.752 Liquorzellen untersucht. Dabei stellte sich heraus, dass bereits im allerfrühesten Stadium der MS-Entstehung drei wesentliche Komponenten des Immunsystems beteiligt sind, nämlich die CD8+ T-Lymphozyten, die CD4+ T-Lymphozyten sowie die B-Lymphozyten. Diese Zellen bekämpfen normalerweise Infektionen und Tumoren. Besonders auffällig erwiesen sich dabei die CD8+ zytotoxischen T-Lymphozyten. Viele waren aktiviert, und zeigten Hinweise, dass sie schon Kontakt mit „Feinden“ hatten. Diese Art von Zellen dominiert auch in den entzündlichen Infiltraten im Gehirngewebe von MS-Patienten. Die aktuellen Befunde geben nun Anlass, den CD8+ T-Zellen höchste Aufmerksamkeit zu schenken, da dieser Zelltyp offensichtlich bereits von Anfang an bei der MS-Entstehung eine herausragende Rolle spielt.
Eduardo Beltrán, Lisa Ann Gerdes, Julia Hansen, Andrea Flierl-Hecht, Stefan Krebs, Helmut Blum, Birgit Ertl-Wagner, Frederik Barkhof, Tania Kümpfel, Reinhard Hohlfeld and Klaus Dornmair: Early adaptive immune activation detected in monozygotic twins with prodromal multiple sclerosis. Journal of Clinical Investigation
2019;129(11):4758–4768. DOI: 10.1172/JCI128475
Quelle und Grafik: idw, Dornmair Lab