VfGH zu Sozialhilfe-Grundsatzgesetz: Höchstsatzsystem für Kinder sowie Arbeitsqualifizierungsbonus verfassungswidrig
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hebt zwei Bestimmungen des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes auf. Das Höchstsatzsystem für Kinder, das laut der von der ÖVP-FPÖ-Regierung beschlossenen Mindestsicherungsreform für das erste Kind einer Familie 25 Prozent, für das zweite Kind 15 Prozent und für das dritte und jedes weitere Kind fünf Prozent der Ausgleichszulage beträgt, hält der VfGH für verfassungswidrig – ebenso die verpflichtende Verknüpfung der Sozialhilfe (Mindestsicherung neu) mit Sprachkenntnissen, da keine Gründe ersichtlich seien, aus denen hervorgehe, dass ausschließlich bei Deutsch- und Englischkenntnissen auf einem hohen Niveau eine Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt anzunehmen sei. Vielmehr sei offenkundig, dass für viele Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt weder Deutschkenntisse auf B1-Niveau noch Englischkenntnisse auf C1-Niveau erforderlich seien. Dadurch verstoße die Regelung gegen den Gleichheitsgrundsatz.
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hebt zwei Bestimmungen des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes sowie eine Bestimmung des Sozialhilfe-Statistikgesetzes als verfassungswidrig auf. Die Regelungen betreffend die Höchstsätze für Kinder sowie die Verknüpfung der Sozialhilfe mit Sprachkenntnissen sind verfassungswidrig. Das Grundsatzgesetz des Bundes verstößt aber nicht gegen die bundesstaatliche Kompetenzverteilung.
Antrag von 21 SPÖ-Bundesrats-Mitgliedern
Gegen das im Frühjahr 2019 verabschiedete Sozialhilfe-Grundsatzgesetz und das gleichzeitig verabschiedete Sozialhilfe-Statistikgesetz hatten 21 SPÖ-Mitglieder des Bundesrates den VfGH angerufen.
Kein unzulässiger Eingriff in die Zuständigkeit der Länder
Die Gewährung von Leistungen bei sozialer Hilfsbedürftigkeit – das „Armenwesen“– ist an sich Sache der Länder. Der Bund ist jedoch zuständig, auf diesem Gebiet Grundsätze für die Landesgesetzgebung aufzustellen. Diese Zuständigkeit erlaubt es dem Bund, auch Detailregelungen zu erlassen, sofern diese Fragen von grundsätzlicher Bedeutung für das ganze Bundesgebiet zum Gegenstand haben. Die Bestimmungen des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes erfüllen diese Voraussetzung; zudem bleiben für die Länder entsprechende Regelungsspielräume.
Auf diese Zuständigkeit des Bundes können auch Regelungen gestützt werden, die auf die Förderung der (Wieder‑)Eingliederung des Bezugsberechtigten in das Erwerbsleben gerichtet sind.
Bedarfsdeckung bei Mehrkindfamilien nicht gewährleistet
Das Sozialhilfe-Grundsatzgesetz sieht in § 5 Abs. 2 Höchstsätze für verschiedene Haushaltskonstellationen vor. Die Höchstsätze für Erwachsene orientieren sich am System der Ausgleichszulage; dagegen hat der VfGH keine Bedenken. Für Kinder sieht das Gesetz jedoch ein abweichendes System vor; danach beträgt der Höchstsatz der Sozialhilfeleistung für das erste Kind 25%, für das zweite Kind 15% und für das dritte und jedes weitere Kind 5% des Ausgleichszulagenrichtsatzes.
Anders als die bisherigen Mindestsicherungs- und Sozialhilfegesetze der Länder sieht der Grundsatzgesetzgeber ein System von Höchstsätzen, nicht aber ein System von Mindestsätzen für die Sozialhilfeleistung vor. Während sich die Höchstsätze für erwachsene Bezugsberechtigte im Wesentlichen am System des Ausgleichszulagenrichtsatzes orientieren, legt der Grundsatzgesetzgeber bei Kindern abweichende Höchstsätze vor. In dieser Regelung liegt eine sachlich nicht gerechtfertigte und daher verfassungswidrige Schlechterstellung von Mehrkindfamilien; insbesondere kann diese Regelung dazu führen, dass der notwendige Lebensunterhalt bei Mehrkindfamilien nicht mehr gewährleistet ist.
Arbeitsqualifizierungsbonus: Verpflichtender Nachweis qualifizierter Deutsch- oder Englischkenntnisse verfassungswidrig
Ebenfalls aufgehoben wird eine Bestimmung im Gesetz, wonach ein Anteil von mindestens 35% der Sozialhilfeleistung von der Vermittelbarkeit des Anspruchsberechtigten am österreichischen Arbeitsmarkt abhängig zu machen ist („Arbeitsqualifizierungsbonus“), wobei diese Vermittelbarkeit dann gegeben ist, wenn zumindest das Sprachniveau B1 (Deutsch) oder C1 (Englisch) nachgewiesen wird. Liegt diese Voraussetzung nicht vor, so sind die Sozialhilfeleistungen entsprechend zu vermindern; als Ersatz für den Differenzbetrag sind sprachqualifizierende Sachleistungen (Kurse) zu gewähren.
„Der Grundsatzgesetzgeber hat in § 5 Abs. 6 bis 9 SH-GG schon deshalb eine unsachliche Regelung getroffen, weil keine Gründe ersichtlich sind, weshalb ausschließlich bei Deutsch- und Englischkenntnissen auf diesem hohen Niveau eine Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt anzunehmen sein soll. Es ist offenkundig, dass für viele Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt weder Deutsch auf B1-Niveau noch Englisch auf C1-Niveau erforderlich sind“, so der VfGH in seinem Erkenntnis. Ferner lässt der Grundsatzgesetzgeber außer Acht, dass Personen aus mannigfaltigen Gründen (Lern- und Leseschwächen, Erkrankungen, Analphabetismus uvm.) nicht in der Lage sein können, ein derart hohes Sprachniveau zu erreichen, aber dennoch am Arbeitsmarkt vermittelbar sein können. Diese Regelung verstößt sohin deshalb gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil es viele Beschäftigungsmöglichkeiten gibt, für die weder Deutsch- noch Englischkenntnisse auf diesem Niveau erforderlich sind.
Sozialhilfe-Statistikgesetz: Verpflichtung zur Übermittlung personenbezogener Daten verstößt gegen das Grundrecht auf Datenschutz
Als verfassungswidrig erweist sich auch eine Bestimmung des Sozialhilfe-Statistikgesetzes, das gemeinsam mit dem Sozialhilfe-Grundsatzgesetz erlassen worden war. Dessen § 1 Abs. 1 bestimmt, dass „sämtliche Behörden“ verpflichtet sind, den Ländern „die zu Zwecken der Aufrechterhaltung und Vollziehung des österreichischen Sozialhilfewesens erforderlichen Daten“ elektronisch zur Verfügung zu stellen. Diese Regelung lässt offen, welche Behörden im Einzelnen welche Daten zu übermitteln haben; sie verstößt daher gegen § 1 des Datenschutzgesetzes, wonach Eingriffe in das Grundrecht auf Datenschutz nur auf Grund von Gesetzen erfolgen dürfen, die ausreichend präzise, also für jedermann vorhersehbar, regeln, unter welchen Voraussetzungen die Verarbeitung personenbezogener Daten für die Wahrnehmung konkreter Verwaltungsaufgaben erlaubt ist.
Quelle: Presseinformation Verfassungsgerichtshof vom 17.12.2019