Diagnose neurologischer Krankheiten über Nervenwasser
Ein Flackern vor den Augen, Taubheit in den Beinen oder Unsicherheit beim Gehen: Zeigen junge Erwachsene diese Symptome, sind sie verunsichert – zu Recht, denn damit steht eine ganze Reihe gravierender neurologischer Verdachtsdiagnosen im Raum. Es könnte sich um Multiple Sklerose handeln, um Neuromyelitis optica oder eine autoimmune Enzephalitis – vielleicht aber auch etwas ganz Harmloses. Meist beginnt eine Odyssee von Fachärztinnen und -ärzten zu Spezialkliniken und wieder zurück – die künftig aber vermeidbar sein dürfte: Eine neue Studie von Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern der Universität Münster zeigt: Ein Blick in die Zerebrospinalflüssigkeit macht genauere Diagnosen möglich.
Die bekannteste entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems ist die Multiple Sklerose (MS), doch oft ist es schwierig, sie anhand klinischer Parameter frühzeitig von anderen entzündlichen Erkrankungen wie der Neuromyelitis optica, von Autoimmunenzephalitiden oder seltenen neuroinflammatorischen Erkrankungen wie dem Susac-Syndrom abzugrenzen. Eine solche Differenzialdiagnose ist aber entscheidend, um frühzeitig die richtige Therapie einleiten zu können und so die Prognose der Patienten bestmöglich zu beeinflussen. Verschiedene Arbeiten der letzten Jahre zeigen, dass die Frühtherapie bei Multipler Sklerose Einfluss auf die spätere Behinderung bzw. die längerfristige Prognose hat. Entscheidende Bedeutung kommt aber auch der Frage zu, inwieweit es sich überhaupt um eine entzündliche Erkrankung mit Behandlungsnotwendigkeit handelt, eine Konstellation, die bei häufig durchgeführter MRT-Bildgebung und damit oft gefundenen „weißen Flecken im Gehirn“ ein ständiges Problem darstellt.
Oligoklonale Banden im Nervenwasser
Die Suche nach oligoklonalen Banden in Zerebrospinalflüssigkeit, dem sogenannten Nervenwasser, dauert Tage, die nach möglichen infektiösen Erregern zieht sich manchmal Wochen hin; Magnetresonanz-Tomographien von Gehirn und Rückenmark werden über Monate beobachtet. Eine Alternative besteht in der Analyse des sogenannten Liquors: Sie ist seit langem ein diagnostisches Verfahren in Neurologie und Psychiatrie, denn das Zellmuster in der Flüssigkeit ist bei vielen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen auf eine spezifische Art verändert. Das volle Potenzial dieser Untersuchung bleibt jedoch meist ungenutzt: Bei diesem Ansatz müssen die Immunzellen im Liquor eingehend charakterisiert werden – dafür sind komplexe Technik sowie geschultes Personal notwendig. Da dieses Verfahren sehr kostenintensiv ist, wird die entsprechende Analyse nur an akademischen Zentren eingesetzt.
Fünf Marker gefunden
Ein deutsches Forschungstem griff nun für eine Studie, die im Fachmagazin „Brain“ veröffentlicht wurde, auf einen Datensatz von 12.000 Nervenwasser-Analysen zurück, für die passende Blutproben derselben Patientinnen und Patienten vorlagen. Die Arbeitsgruppe analysierte Daten von 777 Personen mit unterschiedlichen neurologischen Erkrankungen – vom Schlaganfall über die Multiple Sklerose bis zur Demenz. Dabei wurden fünf Marker gefunden, die ziemlich sicher anzeigen, dass die betreffende Person von einer entzündlichen Erkrankung des Nervensystems betroffen ist. Die Marker funktionierten in 76 Prozent aller untersuchten Fälle. Somit hätte bei drei von vier untersuchten Personen die Liquorprobe ausgereicht, um die Nervenentzündung eindeutig zu diagnostizieren. Mit diesem Ansatz lässt sich vorerst allerdings nur feststellen, dass eine autoimmune Entzündung des Nervensystems vorliegt – nicht aber, welche Krankheit genau sie auslöst.
Krankheitsübergreifende Parameter
Der Blick in den Liquor ermöglicht auch die besonders schwierige Differenzierung verschiedener Entzündungserkrankungen im zentralen Nervensystem. Hier fehlten bisher spezifische Biomarker – die jetzt gefunden wurden. Ausschließlich anhand der im Liquor gefundenen Zelltypen können die Forschenden feststellen, ob junge Patientinnen und Patienten, die entsprechende Symptome zeigen, von einer schubförmig-remittierenden Multiplen Sklerose, einer Neuromyelitis Optica oder dem Susac-Syndrom betroffen sind.
„Kommen Plasmazellen im Liquor vor und gibt es gleichzeitig eine intrathekale IgG-Synthese, dann hat der Patient mit hoher Wahrscheinlichkeit eine schubförmige MS. ‚Hoch‘ heißt hier: zwischen 82 und 91 Prozent.“
Dr. Andreas Schulte-Mecklenbeck
Literatur
Catharina C Gross, Andreas Schulte-Mecklenbeck, Lohith Madireddy, Marc Pawlitzki, Christine Strippel, Saskia Räuber, Julia Krämer, Leoni Rolfes, Tobias Ruck, Carolin Beuker, Antje Schmidt-Pogoda, Lisa Lohmann, Tilman Schneider-Hohendorf, Tim Hahn, Nicholas Schwab, Jens Minnerup, Nico Melzer, Luisa Klotz, Sven G Meuth, Gerd Meyer zu Hörste, Sergio E Baranzini, Heinz Wiendl (2021): Classification of neurological diseases using multi-dimensional cerebrospinal fluid analysis. Brain. DOI: 10.1093/brain/awab147
Quelle: Universitätsmedizin Münster, DGN