Partizipation, Inklusion und Absicherung statt Ausschluss und Diskriminierung
Die Lebenshilfe, der Österreichische Behindertenrat und die Behindertenanwaltschaft fordern anlässlich des Europäischen Protesttages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen Partizipation, Beteiligung und Absicherung sowie mehr Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in Krisenzeiten.
Anlässlich des Europäischen Protesttages zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, der am 5. Mai begangen wird, machten die Lebenshilfe, der Österreichische Behindertenrat und die Behindertenanwaltschaft im Rahmen einer Pressekonferenz, die virtuell in Form eines Zoom-Meetings stattfand, auf die aktuelle Situation von Menschen mit Behinderungen aufmerksam, die laut Behindertenanwalt Dr. Hansjörg Hofer zwar „mitten im Geschehen“ seien, aber dennoch übersehen würden. Hofer zufolge habe die Corona-Krise verdeutlicht, dass die Rechte und Bedarfe von 1,4 Millionen Menschen mit Behinderungen in Österreich noch immer nicht ausreichend wahrgenommen werden.
Ausschluss von Menschen mit Behinderung in gesellschaftlichen Entwicklungen
Germain Weber, Präsident der Lebenshilfe Österreich, beobachtet seit Beginn der Covid-19-Pandemie einen neuen Ausschluss von Menschen mit Behinderung in gesellschaftlichen Entwicklungen. Menschen mit Behinderungen seien in den Kreisen, die diese Entscheidungen vorbereitend begleitet haben, einfach vergessen worden. „Diese Pressekonferenz zum Tag der Inklusion soll ein Anstoß für Politik und Medien sein, sich den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen in der Zeit von Corona nicht weiter zu verschließen und somit Diskriminierungen gegenüber dieser Gruppe in dieser Zeit entgegenzuwirken“ appellierte Weber.
Hürden im Corona-Alltag
Die kaum bis nicht vorhandene persönliche Assistenz, fehlende Begleitung durch vertraute Personen bei Spitalsbesuchen, notwendige Unterstützung im Alltag und mangelhafte Schulung im Umgang mit technischen Hilfsmitteln stellen den Organisatoren der Pressekonferenz zufolge nur einige der Hürden dar, denen Menschen mit Behinderungen im Corona-Alltag begegnen.
Richtige Unterstützung und Assistenz sind ausschlaggebend, um Teilhabe zu gewährleisten und einer Vereinsamung vorzubeugen.
Hanna Kamrat, Vizepräsidentin und Selbstvertreterin der Lebenshilfe Österreich, betonte bei der Online-Veranstaltung, es müsse sichergestellt werden, dass Menschen mit höchstem Unterstützungsbedarf auch in Zeiten wie der Corona-Krise ihre persönliche Assistenz behalten können und die Finanzierung der Assistenz gewährleistet sei. So seien auf Assistenzleistungen angewiesene Menschen im Bedarfsfall, beispielsweise im Fall einer Quarantäne, ganz besonders darauf angewiesen, von vertrauten Personen wie Angehörigen oder Assistentinnen und Assistenten begleitet und betreut zu werden. „Einzel-Isolation in jeder Form, ohne Kontakt zu vertrauten Personen, fördert nicht die Genesung, sondern die Erkrankung. Nicht Isolation, sondern Inklusion ist der Schlüssel zur Gesundheit. Das heißt, es müssen geregelte Strukturen und Finanzierungsprogramme für Krisenzeiten speziell auf die Bedarfe der Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf abgestimmt erarbeitet werden. Es braucht genaue Einzelfall-Regelungen, z.B. für Assistenzleistungen mit variablen Stundenkontingenten, wo Erhöhungen jederzeit unbürokratisch und finanzierbar möglich sind“, erklärte Kamrat.
Pflegende Angehörige
Dass die Leistungen von Angehörigen von Menschen mit Behinderungen kaum bis gar nicht wahrgenommen werden, empört die Präsidentin der Lebenshilfe Niederösterreich, Friederike Pospischil. So würden Eltern und Angehörige seit beinahe zwei Monaten rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche Unglaubliches leisten. „Egal ob sie Kleinkinder, Schulkinder, junge Menschen oder erwachsene Menschen mit Behinderungen jetzt ohne Hilfe zu Hause begleiten und betreuen – eines ist ihnen gemeinsam: Sie fühlen sich nicht gehört, nicht gesehen und kommen in der öffentlichen Wahrnehmung nicht vor“, betonte die Mutter eines Sohnes mit Behinderungen, die vor allem zwei Forderungen stellt: Sicherheit und Gesundheit: „Sicherheit, dass unsere Kinder gesund durch die Krise kommen. Sicherheit, dass Betreuungsplätze auch über längere Zeit freigehalten werden, auch wenn die Abwesenheit längere Zeit dauern wird. Sicherheit, dass die Plätze von der öffentlichen Hand weiter finanziert werden, damit die Organisationen nicht in finanzielle Schwierigkeiten kommen.“
Behindertenorganisationen fordern Sicherheit
„Neue Normalität“ ist nicht für alle gleich
Dass Behindertenorganisationen systemrelevant sind, habe die aktuelle Coronakrise deutlich gezeigt. Da die Verantwortung nicht allein von den Trägerorganisationen übernommen werden könne, fordern diese eine organisatorische und finanzielle Absicherung – „und zwar jetzt“.
Georg Willeit, Geschäftsführer der Lebenshilfe Tirol und Vizepräsident der Lebenshilfe Österreich, tritt dafür ein, das „finanzielle Zittern“ zu beenden – und zwar mithilfe einer einheitlichen finanziellen Absicherung. „Es hätte eine flächendeckende Versorgung mit Schutzausrüstung gebraucht, in einigen Bundesländern waren wir völlig auf uns gestellt. Und das, obwohl wir einen wesentlichen Beitrag zum Gemeinwohl geleistet haben, indem wir zur potentiellen Entlastung des Gesundheitswesens beispielsweise eigene Notquartiere eingerichtet haben“, erläutert Willeit.
Lockerungen der Verordnungen bringen neue Herausforderungen
Willeit fragt sich, ob die Lebenshilfen Isolierstationen weiterführen dürfen und welche Haftungsrisiken für die Träger bestehen, wenn diese versuchen, die notwendigen Assistenzleistungen Schritt für Schritt wieder anzubieten, bevor ein Impfstoff gefunden ist. „Wie ist das im Zusammenhang mit der Einschränkung der persönlichen Freiheiten zu betrachten? Und dann braucht es z.B. für eine optimale Versorgung in Krankenhäusern Konzepte und Policies, die gemeinsam mit Betroffenen und Experten-Organisationen erarbeitet werden. Auf diese Fragen braucht es dringend Antworten seitens der Regierung, die gemeinsam mit der Expertise von Menschen mit Behinderungen und Behindertenorganisationen ausgearbeitet werden“, betonte der Geschäftsführer der Lebenshilfe Tirol.
Behindertenanwalt Hofer zufolge sei insbesondere die Einbindung der Betroffenen in die Planung und Umsetzung aller Maßnahmen nötig – und zwar ab der ersten Stunde, und nicht erst nach vielen Wochen. Gerade für die weiteren Arbeiten in der Zukunft fordert Hofer: „Barrierefreiheit ist auch 14 Jahre nach der gesetzlichen Verpflichtung noch immer nur teilweise verwirklicht; selbst öffentliche Gebäude sind vielfach für Menschen mit Behinderungen, für ältere Menschen oder für Eltern mit Kinderwägen nicht nutzbar. Die Herstellung von Barrierefreiheit schafft und sichert Arbeitsplätze! Es dürfen in Zukunft keine öffentlichen Gelder fließen, wenn das Vorhaben nicht zu hundert Prozent barrierefrei ist.“
Gemeinsam entscheiden und an einem Strang ziehen
Herbert Pichler, Präsident des Österreichischen Behindertenrates forderte, dass sie Expertise von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen in dieser Corona-Krise gehört und auf Augenhöhe in Entscheidungen einbezogen werden müsse. Denn diese Personengruppe halte derzeit „am meisten Einschränkung, Isolation und Lebensveränderung aus und werden auch weiterhin Durchhaltevermögen zeigen müssen“, so Pichler. „Der einzige Plan, den es aktuell gibt, scheint ‚Separierung‘ für Menschen mit Behinderungen vorzusehen. Doch es braucht jetzt einen Plan B und für die Zukunft einen Plan für eine zweite Welle, mit einer Balance aus Schutz und Freiheit. Dieser muss unter Einbezug der Menschen mit Behinderungen gestaltet werden.“ Nur so können nicht nur in naher Zukunft, sondern auch im Falle einer zweiten Corona-Welle bundeseinheitliche Regelungen, Teilhabe und Rechtssicherheit gewährleistet werden.
Die Einbindung von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen in Krisenstäben, Gremien und Expertinnen- und Expertenrunden ist die Voraussetzung für ein gelungenes und flächendeckendes Krisenmanagement, das den Test der Zeit besteht. Diese hat besonders in den ersten Wochen der Krise gefehlt und erst jetzt wird langsam diese Expertise eingeholt.
Herbert Pichler, Präsident des Österreichischen Behindertenrates
Quelle: Pressekonferenz „Mehr Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen in Krisenzeiten“, 4. Mai 2020