Vereinbarkeit von Multipler Sklerose und Beruf
Wie sich Multiple Sklerose auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt, wie berufliche Rahmenbedingungen aussehen, welche konkreten Maßnahmen zur Arbeitsintegration für Menschen mit MS geplant sind, welche noch fehlen und was noch getan werden kann, um die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern, wurde am 21. November bei einem Pressegespräch in Wien erörtert.
Wie sehr Multiple Sklerose das Arbeitsleben beeinflussen kann, wurde in der europaweit unter knapp 17.000 MS-Betroffenen erhobenen Cost of Illness (COI)-Studie erhoben. Die österreichischen Daten wurden separat ausgewertet und geben interessante Aufschlüsse über den Status Quo und notwendige Verbesserungen der beruflichen Rahmenbedingungen für Menschen mit MS. So sind 54 Prozent aller Betroffenen im erwerbsfähigen Alter nicht berufstätig, viele auch bereits mit einem relativ geringen Grad an Beeinträchtigung. Dies kann einerseits zu finanzieller Benachteiligung, andererseits zu sozialer Isolation führen.
Studienfolder: Cost of Illness Studie – Ergebnisse Österreich
Ao. Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, MSc, Leiter der Universitätsklinik für Neurologie an der MedUni Wien und Vorsitzender der MS-Forschungsgesellschaft, Karin Krainz-Kabas, Geschäftsführerin der MS-Gesellschaft Wien, Priv.-Doz. Dr. Jörg Kraus, Präsident der Österreichischen MS-Gesellschaft, Marlene Schmid, Patientenbeirätin und Obmann-Stellvertreterin der MS-Gesellschaft Tirol und Hon. Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, MBA, Gesundheitsexperte der Arbeiterkammer, fordern mehr Aufklärung, eine konsequentere Umsetzung vorhandener Unterstützungsmöglichkeiten und mehr Rechte für Menschen mit Multipler Sklerose, aber auch jene mit anderen chronischen Erkrankungen oder Behinderungen.
Der Schweregrad der Erkrankung wird über die Expanded Disability Status Scale (EDSS) auf einer Skala von 0 bis 10 definiert. Kraus zufolge sage der EDSS-Wert allerdings nur bedingt etwas über die Arbeitsfähigkeit aus. Bei rein körperlichen Tätigkeiten sei eine Arbeitsunfähigkeit meist deutlich schneller erreicht als bei einem Bürojob. Aber gerade bei intellektuellen Aufgaben können Menschen mit MS meist auch noch dann noch tätig sein, wenn sie körperlich bereits deutlich eingeschränkt sind.
MS: Chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems, die meist bei jungen Erwachsenen auftritt. Die ersten Symptome zeigen sich üblicherweise zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr. In Österreich gibt es etwa 13.500 Betroffene, wobei Frauen drei Mal häufiger erkranken als Männer. Jährlich kommen etwa 350 bis 400 neue Fälle dazu.
Der Verlauf ist bei allen Patienten unterschiedlich. Meist beginnt die Krankheit mit einem akuten „Schub“ und verläuft auch schubförmig weiter. Zwischen den Schüben verschlechtert sich die Krankheit nicht. Nach etwa 10 bis 15 Jahren ändert sich die MS aber bei etwa der Hälfte der Erkrankten zu einem kontinuierlich progredienten Verlauf, das heißt, die Krankheit verschlimmert sich. Bei ungefähr 10 Prozent verläuft die MS von Anfang an progredient. Die häufigsten Symptome sind Gefühlsstörungen in den Extremitäten, Sehprobleme, Gleichgewichtsstörungen, Lähmungen, rasche körperliche und geistige Ermüdbarkeit sowie kognitive Einbußen.
Hälfte der MS-Betroffenen mit leichten Einschränkungen ist nicht berufstätig
2017 wurde die bisher größte internationale Studie zur Cost of Illness (COI) mit knapp 17.000 Menschen mit der Diagnose Multiple Sklerose in 16 europäischen Ländern durchgeführt. In Österreich nahmen 516 Patienten teil. 42,5 Prozent von ihnen waren von der schubförmigen Verlaufsform betroffen.
54 Prozent aller Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer im erwerbsfähigen Alter gaben an, nicht berufstätig zu sein, 43 Prozent nannten dafür ihre Erkrankung als Grund.
Die Auswirkungen der Krankheit auf das Berufsleben der Betroffenen erwiesen sich als enorm: 54 Prozent aller Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer im erwerbsfähigen Alter waren nicht berufstätig, 43 Prozent davon gaben dafür MS als Grund an. 50 Prozent der Befragten mit einem leichten Behinderungsgrad (EDSS 0 bis 3) waren nicht mehr im Erwebrsprozess. 62 Prozent der Berufstätigen gingen einer Teilzeitbeschäftigung nach, ein Großteil davon aufgrund der Erkrankung.
73 Prozent der berufstätigen Befragten berichteten, dass die Krankheit ihre Produktivität bei der Arbeit beeinträchtigt. Als am unangenehmsten empfanden sie Fatigue (60 %), gefolgt von eingeschränkter Mobilität (30 %), kognitiven Problemen (25 %), Schmerzen (19 %) und getrübter Stimmung (18 %).
Kosten der Erkrankung
Die aus der Erkrankung resultierenden Kosten werden in der Studie pro betroffener Person mit einer Summe von 25.100 (Gruppe der wenig eingeschränkten Patienten) bis 73.800 Euro (Gruppe der schwer beeinträchtigten Patienten) pro Jahr beziffert, wobei der hohe Kostenanteil, der auf die Frühpensionen entfällt, ins Auge sticht. Bereits bei Personen mit mildem Krankheitsverlauf machen Frühpensionen knapp ein Viertel der Gesamtkosten aus. Bei höherem Behinderungsgrad steigen sie weiter an, hier kommen jedoch auch noch weitere starke Kostentreiber wie Pflege und Sozialdienste dazu.
Auch europaweit zeigte sich, dass der Verlust der Arbeitskraft der Volkswirtschaft teuer zu stehen kommt: Der größte Teil der von der Erkrankung verursachten Kosten (33 %) kommt nämlich durch den Ausfall der Produktivität der betroffenen Patienten zustande. 3
Laut Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, der die österreichischen Daten analysiert hat, zeigen die Daten zeigen eindeutig auf, wo Handlungsbedarf herrscht. „Zum einen müssen wir Ärzte versuchen, durch die individuell beste Therapie für den Patienten den Krankheitsfortschritt zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. Außerdem müssen wir uns mehr als bisher der Behandlung und Vorbeugung der Fatigue, der kognitiven Dysfunktion und der Depression widmen. Zum anderen muss es auch ein wichtigeres Ziel als bisher sein, die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen zu erhalten, nicht nur durch medizinische Versorgung, sondern auch durch unterstützende Maßnahmen am Arbeitsplatz. Dies kann nur gelingen, wenn alle zuständigen Stellen optimal zusammenarbeiten“, erklärte Berger.
Integrieren statt Stigmatisieren
Priv.-Doz. Dr. Jörg Kraus erklärte, dass man mit diesen Symptomen richtig umgehen müsse, um trotzdem berufstätig bleiben zu können. „Entscheidend für die Arbeitsfähigkeit ist, wie sehr Unternehmen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterstützend entgegenkommen. Kann jemand, der häufig von Fatigue geplagt wird, häufiger Pause machen oder Teilzeit arbeiten, wird er auch länger im Erwerbsleben bleiben können“, berichtet Kraus von seiner Erfahrung als Neurologe und ÖMSG-Präsident.
Menschen mit Multipler Skelrose benötigen durch ihre Krankheit manchmal mehr Flexibilität und Unterstützung als andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie sind aber im Regelfall trotzdem ganz besonders wertvolle Mitarbeiter. Dass die Hälfte aller MS-Betroffenen nicht mehr berufstätig ist, ist Kraus zufolge aus medizinischer Sicht nicht begründbar. MS kann heute zwar nicht geheilt, mit der richtigen Medikation aber sehr erfolgreich behandelt werden. In vielen Fällen kommen Schübe nur noch sehr selten vor. Diesbezügliche Ängste von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sind daher oft unbegründet. In deren Köpfen herrscht jedoch häufig noch das Bild einer schweren Krankheit vor, die mit einer geregelten Arbeit unvereinbar ist. Aufklärung ist daher dringend notwendig, so Kraus.
Arbeitsfähigkeit hängt von mehreren Kriterien ab
Ob jemand mit Multipler Sklerose arbeitsfähig ist oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. Der sogenannte EDSS (Expanded Disability Status Scale) definiert zwar die Schwere der Erkrankung auf einer Skala von 0 bis 10, sagt jedoch nur bedingt etwas über die Arbeitsfähigkeit aus. Bei rein körperlichen Tätigkeiten kann eine Arbeitsunfähigkeit schneller erreicht sein als beispielsweise bei einem Bürojob. In letzterem können MS-Betroffene auch dann oft noch tätig sein, wenn sie körperlich deutlicher eingeschränkt sind. Relevant ist auch, wie sehr Unternehmen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterstützend entgegenkommen. Kann jemand, der häufig von Fatigue (krankheitsbedingter vorzeitiger Erschöpfung) geplagt wird, häufiger Pause machen oder Teilzeit arbeiten, wird dieser auch länger im Erwerbsleben stehen können. Jemand, der im Rollstuhl sitzt – wobei dies sicherlich mittlerweile die Minderheit der MS-Betroffenen ist – , kann trotzdem oder gerade deswegen eine wertvolle Mitarbeiterin bzw. ein wertvoller Mitarbeiter sein und aufgrund der Behinderung möglicherweise sogar Sichtweisen ins Unternehmen einbringen, die sonst untergehen würden.
Bestmögliche Behandlung gefragt
„Als Mediziner haben wir die Aufgabe, unsere Patientinnen und Patienten bestmöglich über die Erkrankung und den möglichen Verlauf zu informieren sowie sie optimal medikamentös einzustellen. Auch unterstützende Maßnahmen wie Physiotherapie oder ähnliches können besprochen und empfohlen werden. Was Betroffene jedoch sonst noch brauchen, ist weniger eine medizinische Frage als eine gesellschaftliche. Die ÖMSG plädiert daher dafür, deutlich mehr Aufklärungsarbeit als bisher zu leisten und gerade auch für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber spezifische Informationen zur Verfügung zu stellen. Außerdem fordert sie einen schnelleren Zugang zu den neuesten Medikamenten als dies in der Vergangenheit oft der Fall war. Gerade bei der Multiplen Sklerose ist es unumgänglich, die Krankheit so früh und so effizient wie möglich zu behandeln.
Aufklärung ist laut Kraus vor allem deswegen notwendig, weil an vielen Stellen immer noch die Meinung vorherrscht, dass MS automatisch zu Arbeitsunfähigkeit führt. Oft ist aber das Gegenteil der Fall: Viele Betroffene wollen trotz Erkrankung so lange wie möglich im Berufsleben bleiben. Erschreckend ist, das Betroffene mit EDSS 3 trotz geringer Behinderung laut jüngster Studiendaten bereits zu 50 Prozent nicht mehr im Erwerbsleben stehen. Weiters ist für die meisten Betroffenen ein Schub (neue Symptome über die Dauer von mindestens 24 Stunden, die nicht anderweitig erklärbar sind) ein seltenes Ereignis. So haben statistisch gesehen Betroffene, die adäquat behandelt sind, nur alle fünf bis 10 Jahre einen Schub.
Die Angst vieler Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber vor häufigeren oder längerfristigen Ausfällen ist daher zumeist unbegründet. Es braucht also mehr Anstrengungen, um alle Beteiligten über Möglichkeiten und Unterstützungen aufzuklären. Oft liegt es ja nicht am Wollen der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder der finanziellen Unterstützung für eine Anpassung des Arbeitsplatzes, dass Personen mit MS wenig Chancen haben einen Job zu finden. Es ist vielmehr so, dass die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber schlicht und einfach nicht genügend über die Krankheit Bescheid wissen.
Aufklärung ist auch in der Breite der Gesellschaft nötig, dazu gehören auch Schulen und Kindergärten. Bereits Kinder sollten lernen, dass Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen nicht ins Abseits gehören, sondern in die Mitte der Gesellschaft. Diesbezügliche Stigmatisierungen müssen der Vergangenheit angehören. Geschichten von Betroffenen, die sich nicht trauen, ihrem Arbeitgeber oder ihren Kollegen von ihrer Erkrankung zu erzählen und sich mehr anstrengen als gesunde Kollegen, um nur ja nicht aufzufallen, müssen endlich der Vergangenheit angehören!
Neue Arbeitsplatzmodelle notwendig
Karin Krainz-Kabas plädiert für Aufklärung bei Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, denn mehr Information führe zu mehr Verständnis. Die Verantwortlichen in den Unternehmen sollten darüber Bescheid wissen, dass MS meist in Phasen verläuft und nach schwierigen auch wieder gute Phasen kommen, in denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter produktiver sind.
Oft haben Menschen mit Multipler Sklerose schon kurz nach Diagnosestellung ein Problem damit, ihren Arbeitsplatz zu halten – mitunter genügt schon ein etwas längerer Krankenstand. Nicht alle finden wieder einen Job, auch wenn sie medikamentös gut eingestellt sind. Von jenen, die am Arbeitsmarkt bleiben, trauen sich auch viele nicht, am Arbeitsplatzvon der Krankheit zu erzählen. Und wenn er oder sie nicht offiziell als „begünstigt behindert“ eingestuft wird, gibt es von öffentlicher Seite auch keine Förderungen, um die Arbeit so zu gestalten, dass sie auch für MS-Betroffene möglich und sinnvoll ist. Neue Modelle am Arbeitsplatz und mehr Aufklärung in allen gesellschaftlichen Bereichen sind daher notwendig, erklärt Krainz-Kabas.
Jobverlust durch Krankheit eher Regel als Ausnahme
Etwa die Hälfte aller Menschen mit Multipler Sklerose ist nicht berufstätig, das zeigen sowohl nationale als auch internationale Studiendaten. Aus dem zuletzt 2015 veröffentlichten internationalen MS-Barometer ist bekannt, dass etwa 50 Prozent der nicht Berufstätigen ihren Job innerhalb von drei Jahren nach Therapiebeginn verlieren. Die Erfahrungen der MS-Gesellschaft Wien bestätigen dies. Oft kommt es bereits in der ersten Phase der Erkrankung zu Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. Leider sind auch Kündigungen nicht ausgeschlossen, manchmal sogar während des Krankenstandes. Ob Menschen mit MS dann überhaupt wieder eine Arbeit finden (können), hängt von mehreren Faktoren ab: Ausbildung, Erfahrung, Qualifizierung allgemein, aber auch davon, wie gut die Therapie greift und ob es Symptome gibt, die die berufliche Tätigkeit einschränken. Wer jung und qualifiziert ist und eine milde Verlaufsform der Erkrankung hat, hat noch die besten Chancen am Arbeitsmarkt zu bleiben.
Reden oder Schweigen: Die Antwort ist nicht immer eindeutig
Jene, die noch arbeiten können, wissen oft nicht, ob sie ihrer Arbeitgeberin oder ihrem Arbeitgeber von der Erkrankung erzählen sollen. Die MS-Gesellschaft Wien plädieret grundsätzlich für Offenheit – schließlich bedeutet es für die Betroffenen eine weitere Belastung, wenn sie ihre Krankheit verheimlichen müssen. Krainz weiß aber auch, dass dies nicht immer möglich ist und rät dazu, genau zu überlegen, wie das Unternehmen seine soziale Verantwortung wahrnimmt und wie dort mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgegangen wird.
Langfristig gesehen müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die dazu führen, dass sich Betroffene nicht verstecken müssen, sondern mit ihrer Krankheit integriert werden.
Um das zu erreichen, braucht es vor allem Aufklärung. Das betrifft nicht nur die verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Unternehmen, sondern die Bevölkerung generell. „Wir merken immer wieder, dass nur die wenigsten Leute wissen, was Multiple Sklerose ist und welche Symptome sie verursacht. Mehr Information würde aber zu mehr Verständnis führen. Dann würden die Verantwortlichen zum Beispiel wissen, dass MS meist in Phasen verläuft und dass nach einer schwierigen wieder gute Phasen kommen, in denen die Mitarbeiter produktiver sind. Und sie würden sich im Sinne der Inklusion vermutlich mehr bemühen, chronisch Kranken die Teilhabe zu ermöglichen. Dies ist auch ein Zeichen von Diversität. Personen mit Einschränkungen – egal welcher Art – sollten sich nicht an das Unternehmen anpassen müssen, sondern das Unternehmen sollte die Menschen mit all ihren Eigenschaften integrieren“, ist Krainz-Kabas überzeugt.
Wichtig ist auch das persönliche Umfeld der Patienten. Wenn dort ein offener Umgang mit der Erkrankung gepflegt werden kann und Hilfe im Alltag möglich ist, dann haben sie auch mehr Energie für den Job. Wichtig ist eine offene Kommunikation und ein Wissen über die Krankheit. Müdigkeit sieht man oft nicht auf den ersten Blick, aber jemand der Bescheid weiß, kann helfen, im täglichen Leben Dinge abzunehmen.
Mehr Barrierefreiheit notwendig
Um mehr Menschen mit MS im Arbeitsprozess halten zu können, können verschiedene Schritte gesetzt werden. Diese reichen von flexiblen Arbeitszeitmodellen bis zur barrierefreien Gestaltung des Arbeitsplatzes. Auch mehr Möglichkeiten für Home Office würden helfen.
Schwierig ist, dass Arbeitgeber derzeit erst Förderungen erhalten, wenn ein sogenannter Feststellungsbescheid nach dem Behinderteneinstellungsgesetz vorliegt. Viele MS-Betroffene leiden jedoch unter Symptomen wie beispielsweise Tagesmüdigkeit oder Schmerzen, die einschränken, wodurch sie aber noch nicht zu 50 Prozent behindert sind. Und da mit einem solchen Feststellungsbescheid auch zusätzliche Rechte verbunden sind, finden die Betroffene mit Feststellungsbescheid oft nicht leicht einen guten Arbeitsplatz.
Bessere Möglichkeiten, um MS-Betroffene zu integrieren, wären zum Beispiel das Recht auf Teilzeitarbeit bei Diagnose oder die Erlaubnis, trotz Berufsunfähigkeitspension mehr als nur bis zur Geringfügigkeitsgrenze dazu verdienen zu dürfen. Diese Grenze ist gerade bei hochqualifizierten Personen sehr schnell erreicht.
Insgesamt geht es um eine Haltungsänderung: Vielfalt sollte als etwas Positives wahrgenommen werden. Um mit einem Team erfolgreich zu sein, braucht es eine gemeinsame Idee und Motivation, Eigenschaften wie Verantwortung und die Fähigkeit zu transparenter Kommunikation. Die eine oder andere Einschränkung einzelner Teammitglieder ist weniger bedeutend. Je älter wir werden, desto höher ist auch das Risiko für chronische Krankheiten.
Langfristig wird es sich die Volkswirtschaft nicht leisten können auf Menschen mit MS am Arbeitsmarkt zu verzichten. Wir müssen daher neue Modelle finden, die für alle Möglichkeiten bieten lange im Arbeitsleben zu bleiben.
Viele Unterstützungsmöglichkeiten vorhanden – weitere Aufklärung nötig
Marlene Schmid weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, die Diagnose MS zu bekommen: „Zuerst eine Einschränkung am Auge, dann Verlust der Sehfähigkeit, Überweisung ins Krankenhaus gefolgt von einem mehrtägigen Krankenhausaufenthalt mit vielen Untersuchungen. Danach wurde ich zu einem klärenden Gespräch gebeten, eine schlimm“ Diagnose wurde in den Raum gestellt. Das war die Einstellung, die man damals zur MS hatte und die leider bei vielen Betroffenen und auch in der Bevölkerung immer noch vorherrscht. Tatsächlich hat sich mein Zustand damals rasch verschlechtert. Ich litt unter Bewegungseinschränkungen und Fatigue, war nervlich schnell überlastet. In meiner beruflichen Tätigkeit im Einzelhandel wurde ich bald als zu langsam und zu wenig produktiv eingestuft und immer mehr ins Abseits gedrängt. Man riet mir, um die Invaliditätspension anzusuchen, die mir dann schließlich auch genehmigt wurde. Bis ich endlich das für mich passende Medikament bekam, hat es lange gedauert, viele Streitereien mit Kassen waren notwendig. Seither hat sich aber viel verändert.“ Heute würde Schmidt nicht mehr um Invaliditätspension ansuchen, sondern versuchen, mit Unterstützung im Arbeitsleben zu bleiben. Denn neben dem Verlust des „gebraucht Werdens“ bringt die
Unternehmen sollten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Einschränkungen noch fester ans Unternehmen binden, rät Schmidt. Oft kann ja im Vorfeld schon viel getan werden, damit diese nicht ausfallen oder im Fall des Falles die Möglichkeit haben, nach einem längeren Krankenstand oder einer Reha wieder zurückzukommen. Gerade Personen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen wollen ja aktiv sein. Und sie können es auch, wenn man sie entsprechend unterstützt. Das gilt sowohl für Personen mit als auch für solche ohne Behindertenstatus. Wichtig ist, dass die Betroffenen mit ihren Kräften haushalten können und sich nicht völlig für den Betrieb verausgaben müssen, um „mithalten“ zu können. Völlig überlastete Mitarbeiter sind nicht unproduktiv, sondern nach Ende ihrer Arbeit womöglich sogar eine Gefahr im Straßenverkehr, weiß die Patientinnen und Patientenvertreterin.
Arbeiten mit Beeinträchtigungen wäre viel öfter möglich
Initiativen zur Unterstützung chronisch kranker oder behinderter Menschen nach längeren Krankenständen müssen weiter ausgebaut und verfeinert werden, fordert Hon. Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, MBA.
So könnten Unternehmen, die Personen mit Einschränkungen einstellen oder weiter beschäftigen möchten, auf Antrag – wie auch die Betroffenen selbst – vielfältige finanzielle Förderungen von der öffentlichen Hand erhalten. Instrumente wie etwa fit2work oder die befristete Arbeitszeitreduktion nach den Regeln des Wiedereingliederungsteilzeitgesetzes sind dafür gute Ansätze, das in anderen Ländern bereits erprobte „disability management“ für Österreich zu adaptieren, erklärt der Arbeiterkammer-Experte. Leider gibt es für diese beiden Programme keinen Rechtsanspruch.
Ganz wichtig ist es auch, sich um die jungen Menschen nach der Diagnose zu kümmern. Rupp: „Ausbildungs- und Berufsentscheidungen, die ohne fachliche Beratung, unter dem Eindruck von schwerwiegenden Diagnosen getroffen werden widersprechen häufig dem intellektuellen Potenzial und den Krankheitsverlaufsprognosen für die Betroffenen.“
Ein wichtiger Ansatzpunkt ist hier eine gute fachliche Beratung, wie sie beispielsweise bei der Multiple Sklerose Gesellschaft Wien angeboten wird.
Generell istein Umdenken in der Gesellschaft notwendig, denn von 4,3 Millionen in Österreich erwerbstätigen bzw. arbeitssuchenden Menschen sind mehr als zwei Millionen chronisch krank oder haben Einschränkungen. An entsprechenden Anpassungen der Arbeitsumstände wird also in naher Zukunft kein Weg vorbei führen, ist Rupp überzeugt.
Literatur
Ulf Baumhackl (Hg.); Multiple Sklerose; Prävalenz & Therapie im 12-Jahres-Vergleich in Österreich; 2014
Kobelt et al. New insights into the burden and costs of multiple sclerosis in Europe. Multiple Sclererosis Journal 2017 Jul;23(8):1123-1136
Berger, T., Kobelt, G., Berg, J., Capsa, D., & Gannedahl, M. (2017). New insights into the burden and costs of multiple sclerosis in Europe: Results for Austria. Multiple Sclerosis Journal, 23(2_suppl), 17–28. https://doi.org/10.1177/1352458517708099
Quelle: Fine Facts Health Communication