Multiple Sklerose

Multiple Sklerose (MS) oder Encephalomyelitis disseminata (ED) ist die häufigste neurologische Erkrankung des jungen Erwachsenenalters mit österreichweit rund 13.500 Betroffenen. Die Erkrankung tritt meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf, wobei Frauen etwa dreimal so häufig betroffen sind wie Männer. Die Erkrankungshäufigkeit nimmt mit der Entfernung vom Äquator zu.

Bei der autoimmunen, chronisch-entzündlichen neurologischen Erkrankung mit unterschiedlichen Verlaufsformen kommt es zu entzündlichen Veränderungen in Teilen des zentralen Nervensystems (Gehirn und Rückenmark) mit Lähmungen, Gangstörungen, Sehstörungen und weiteren, eventuell sehr schweren neurologischen Beeinträchtigungen. Eine österreichweite Datenerhebung bei Menschen mit MS aus dem Jahre 1999 ergab, dass zu dem gegebenen Zeitpunkt 29 % sehr schwer behindert (beidseitige Hilfsmittelverwendung, Rollstuhl, bettlägerig) und 40 % mäßig oder stark behindert waren.

Autoimmunerkrankung

Nach dem derzeitigen Stand der Forschung handelt es sich bei der Multiplen Sklerose um eine Autoimmunerkrankung. Das bedeutet, dass das eigene Immunsystem, dessen eigentliche Aufgabe ja die Abwehr von Infektionen darstellt, fälschlicherweise gegen bestimmte Strukturen des eigenen Nervensystems gerichtet ist.

Verletzung der Myelinschicht

Vor allem Bestandteile der sogenannten „weißen Substanz“ des Gehirns und des Rückenmarkes, die als Myelinscheiden bezeichnet werden, stellen Angriffspunkte für die fehlgeleitete Entzündungsreaktion dar. Diese Myelinscheiden dienen als Isolationsschicht um die Nervenzellfortsätze (Axone), über die im gesamten Nervensystem Informationen übertragen werden.

Eine Verletzung dieser Isolationsschichten behindert die Informationsübertragung, wodurch die klinischen, vom Betroffenen bemerkten Störungen entstehen. Diese klinischen Auswirkungen können sehr vielseitig sein, je nachdem wo der Entzündungsherd im Gehirn oder Rückenmark lokalisiert ist.

Definition Multiple Sklerose

Multiple Sklerose (MS) oder Encephalomyelitis disseminata (ED) ist die häufigste neurologische Erkrankung des jungen Erwachsenenalters. Bei der autoimmunen, chronisch-entzündlichen neurologischen Erkrankung mit unterschiedlichen Verlaufsformen kommt es zu entzündlichen Veränderungen in Teilen des zentralen Nervensystems (Gehirn und Rückenmark).

Inzidenz und Prävalenz der Multiplen Sklerose

Die Inzidenz ist eine Kennzahl für die Anzahl der Personen innerhalb einer definierten Population, bei denen eine Erkrankung neu auftritt. Sie bezieht sich auf alle Personen dieser Population, die zu Beginn der Beobachtung gesund waren (Risikopopulation). Die Neuerkrankungsrate hat immer einen zeitlichen Bezug, der mit angegeben wird (z. B. pro 100.000 Personen pro Jahr oder 1.000 Personenjahre) (Fletcher et al. 1996).

Die Prävalenz macht eine Aussage über die Anzahl der Personen innerhalb einer definierten Population, die an einer bestimmten Erkrankung leiden, bezogen auf alle Personen, die zu dieser Population zählen. Zur besseren Vergleichbarkeit und Vereinheitlichung der Angaben wird die Erkrankungshäufigkeit meist als Anzahl Erkrankter (Fälle) pro 100.000 angeben. (Fletcher et al. 1996)

Die Multiple Sklerose zeigt weltweit eine ungleiche Verteilung: Während die Inzidenz- und Prävalenzraten in der nördlichen Hemisphäre mit gemäßigtem Klima und vergleichsweise gutem Grundeinkommen hoch sind, spielt die MS in Äquatornähe und tropischen Ländern eine geringe Rolle. Darüber hinaus scheinen Inzidenz- und Prävalenzzahlen in den letzten Jahren zuzunehmen. Die Zunahme der Prävalenz der Erkrankung wird u. a. auf die erhöhte Lebenserwartung und auf eine Zunahme der Inzidenz insbesondere unter Frauen zurückgeführt. Zusätzlich erlauben verbesserte diagnostische Möglichkeiten eine frühere Diagnosestellung.

Angaben zur Prävalenz der MS in Österreich basierten bisher auf zwei aus kleinen Kollektiven stammenden Fragebogenstudien, die extrapoliert über eine Prävalenz von 98,5/100.000 im Jahr 1999 und 149/100.000 im Jahr 2006 berichteten. Sabine Salhofer-Polanyi errechnete mit ihren Kolleginnen und Kollegen anhand der Capture-Recapture-Methode eine aktuelle Inzidenz von 19,5/100.000 (95%-KI: 14,3–24,7) und eine Prävalenz von 158,9/100.000 (95%-KI: 141,2–175,9).

Im Gegensatz zu Vorstudien wurden diese Zahlen basierend auf den anonymisierten Daten der österreichischen Krankenversicherungsträger berechnet, die 98 % der versicherten Österreicherinnen und Österreicher im Zeitraum von Jänner 2010 bis Dezember 2013 insgesamt 13.205 Menschen mit MS erfassten.

Aufgeschlüsselt nach einzelnen Jahren ist die Prävalenz in den Jahren 2011–2013 von 142,1 auf 172,5/100.000 gestiegen, die Inzidenz jedoch von 23,6/100.000 auf 14,5/100.000 gesunken. Für das letzte Jahr der Observationsperiode (2013) wurden auch Inzidenz- und Prävalenzgipfel berechnet. Der Inzidenzgipfel für alle Patientinnen und Patienten lag zwischen dem 30. und 39. Lebensjahr, während er bei Frauen zwischen dem 20. und 29. Lebensjahr lag. Der Prävalenzgipfel lag bei 40–49 Lebensjahren.

Zusammenfassend scheint die Prävalenz der Multiplen Sklerose in Österreich zu steigen. Die Ursache könnte auf die verbesserten diagnostischen Möglichkeiten und die steigende Lebenserwartung zurückzuführen sein.

Geschlechtsverteilung

72 Prozent der an MS erkrankten Menschen sind Frauen, wobei das Verhältnis Frauen zu Männer bereits 3:1 bis 3,5:1 beträgt. Für Geschwister und Kinder von MS-Betroffenen besteht ein leicht erhöhtes Erkrankungsrisiko, wobei die Ursache der Multiplen Sklerose nicht ausschließlich aus einer ererbten Bereitschaft besteht, sondern auch Umweltfaktoren wie virale Infekte, Epstein-Barr-Virusinfektionen, Sonnenexposition und Vitamin-D-Mangel für das Zustandekommen der Multiplen Sklerose mitverantwortlich gemacht werden.

Verteilung der Verlaufsformen

Die Multiple Sklerose wird entsprechend ihrer zum Zeitpunkt der Untersuchung vorherrschenden Ausprägung in verschiedene Verlaufsformen unterteilt.

22% der Menschen mit MS sind von einer Verlaufsform betroffen, die die Betroffenen nur leicht behindert, 33 % haben subjektiv keine Beschwerden oder Behinderung und jede 10. betroffene Person benötigt zeitweise oder dauernd einen Rollstuhl. Bei zwei Drittel der MS-Betroffenen liegt eine schubförmige Verlaufsform vor.

Die Erkrankung beginnt meist (in ca. 90 %) mit einem Erkrankungsschub. Der Zustand nach einem ersten Schub wird als „klinisch isoliertes Syndrom“ (CIS) bezeichnet. Kommt es im weiteren Zeitverlauf neuerlich zu Schüben, spricht man von einem schubförmig remittierendem Verlauf. Insbesondere in den ersten Jahren der Erkrankung ist eine vollständige Rückbildung der Symptome möglich, neurologische Restsymptome bleiben aber sehr oft und in unterschiedlichem Ausmaß bestehen.

Durch eine immunmodulierende Behandlung mit „den Krankheitsverlauf modifizierenden“ Arzneimitteln kann der schubförmige Verlauf der MS verändert werden. Im optimalen Fall ist eine „Freiheit von Krankheitsaktivität“ erzielbar, darunter wird verstanden, dass keine Schübe, keine Verschlechterung der Symptomatik (kein progredienter Verlauf) und keine entzündliche Aktivität bei MRT-Untersuchungen von Gehirn und Rückenmark nachgewiesen werden.
Es wird ein „natürlicher Krankheitsverlauf“ (das bedeutet „ohne Einflussnahme einer wirksamen Therapie“, dies war früher der Fall; Medikamente, die eine effektive Immunmodulation bzw. Immunsuppression bei MS bewirken, stehen erst seit etwa 20 Jahren zur Verfügung) einem Verlauf, welcher durch therapeutische Maßnahmen günstig verändert werden konnte, gegenübergestellt. Es kann deshalb erwartet werden, dass durch hochwirksame Therapien die Krankheitsverläufe der MS-Betroffenen sich „milder“ darstellen. Das bedeutet dann weniger Schübe und verminderte Progression.

Schub-Definition

  • akut/subakut auftretende neue neurologische Ausfälle oderVerschlechterung vorbestehender Symptome, welche
  • mindestens 24 Stunden anhalten
  • kein Zusammenhang mit erhöhter Körpertemperatur (Fieber, Infekt, Überhitzung)
  • tritt innerhalb eines Monates eine weitere Verschlechterung auf (neue oder zunehmende neurologische Symptome), wird dies zum selben Schub gerechnet

Die exakte Erfassung eines Schubes ist bedeutsam, da die Wirksamkeit einer immunmodulierenden Therapie auch über die erzielte Verminderung der Schübe beurteilt wird. „Normale“ Schwankungen der Tagesverfassung und ein Pseudoschub (= die Verschlechterung durch erhöhte Körpertemperatur) dürfen nicht als Schub gezählt werden. Man spricht von einem Uhthoff-Phänomen, wenn eine Leistungsverschlechterung durch Erhöhung der Körpertemperatur infolge körperlicher Anstrengung, Fieber, hohe Außentemperatur, Bad in heißem Wasser etc. eintritt. Die Betroffenen können sich schwerer bewegen, die Symptomatik dauert aber nur relativ kurz an, dann gehen die akuten Beschwerden wieder vorüber. Ursächlich wird eine vorübergehende Verschlechterung der Leitfähigkeit der Nervenbahnen angenommen. Eine Kühlung kann diesen Zustand bessern.

Der klinische Verlauf der MS ist sehr variabel. Die eventuell anwachsenden neurologischen Beeinträchtigungen können Folge einer inkompletten Wiederherstellung der Funktionen nach Erkrankungsschüben oder durch eine langsam zunehmende Verschlechterung (Progression der Erkrankung) entstanden sein.

„Schubförmiger Verlauf“

Es treten Erkrankungsschübe auf, die Symptome bilden sich komplett oder nur teilweise zurück (schubförmig remittierender Verlauf). Zwischen den Schüben gleichbleibender Befund oder Übergang in die sekundär-progrediente Form.

„Benigne (milde) MS“

Es handelt sich um einen Krankheitsverlauf mit Schüben, wobei nach der Definition innerhalb eines Zeitraumes von 10 bis 15 Jahren keine oder sehr geringe Restsymptome (neurologische Behinderungen) eingetreten sind. Eine Vorhersage dieser Verlaufsform ist nicht möglich. Auch eine früh einsetzende wirksame
Basistherapie kann einen günstigeren Krankheitsverlauf bewirken.

„Progredienter Verlauf“

In etwa 10% entwickelt sich von Beginn weg (ohne Schübe) langsam zunehmend eine neurologische Symptomatik, sehr häufig zunächst eine Lähmung an den Beinen, dann treten andere Symptome hinzu. Man spricht von der primär chronisch progredienten Verlaufsform. Der Erkrankungsbeginn ist meist später als
beim schubförmigen Verlauf, Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen.

Der Übergang einer schubförmigen MS in die sekundär-progrediente Form erfolgt in etwa 80% der unbehandelten MS-Betroffenen im Laufe von Jahren oder Jahrzehnten. Klinische Beobachtungen liefern Hinweise, dass die Umwandlung einer schubförmigen in eine sekundär-progrediente MS durch immunmodulierende Behandlungen positiv beeinflusst werden können.

„Juvenile MS“

In ca. 3–5 % treten die ersten klinischen Symptome vor dem 18. Lebensjahr auf. Meist handelt es sich um eine schubförmig verlaufende Erkrankungsform, der primär chronisch progrediente Verlauf ist in dieser Altersgruppe sehr selten. Schwere Verlaufsformen mit rasch fortschreitender Behinderung wurden nur vereinzelt beschrieben.

Wann soll ich an die Diagnose MS denken?

Zu Erkrankungsbeginn bei der schubförmig verlaufenden MS vorliegende neurologische Symptomatik (z.B. bei einem klinisch isolierten Syndrom):

Sensibilitätsstörungen (30–40%)

Parästhesien (Kribbeln, Taubheitsgefühl) bzw. eine Beeinträchtigung der Berührungsempfindung in ein oder mehr Extremitäten, meist distal subakut beginnend, Ausbreitung nach proximal, an Intensität zunehmend. Eventuell Übergang auf (untere) Stammregion und die andere Körperseite. Lhermitte-Zeichen ca. 5%): beim Neigen des Kopfes nach vorne „elektrisierendes“ Gefühl im Rücken und in den Beinen.
Neurologische Untersuchung: Vibrationssinn, Zahlen erkennen vermindert. Störung von Schmerz- und Temperaturempfinden seltener.

Motorische Störungen (Mono- oder Paraparese), Gangstörung (30–40%)

Ausmaß variabel, von leichter Beeinträchtigung (Ungeschicklichkeit, Ermüdbarkeit, Schweregefühl, Steifigkeitsgefühl der Beine) bis zu hochgradiger Lähmung reichend.

Sehstörungen – Opticusneuritis (15–20%)

Akut oder subakut monokuläres Nachlassen der Sehschärfe, Zentralskotom, eventuell peripheres Skotom, Störung des Farbensehens. Häufig Schmerzen bei Augenbewegungen. Augenhintergrund unauffällig (5–10% Papillenödem), Papillenabblassung nach Wochen feststellbar.
Neurologische Untersuchung: Sehprobentafel, Untersuchung der visuell evozierten Potenziale (VEP) kann eine asymptomatisch abgelaufene Retrobulbärneuritis nachweisen.

Hirnnervensymptome (10–15%)

Doppelbilder, periphere Fazialisparese, seltener (zu Beginn) sensible Störung im Gesicht oder Trigeminusneuralgie. Vertigo (Schwindel, Gleichgewichtsstörung) kann isoliert oder mit anderen Hirnstammsymptomen auftreten.
Neurologische Untersuchung: Abduzensparese, seltener Okulomotorius betroffen. Internukleäre Ophthalmoplegie (Doppelbilder maximal beim Seitwärtsblick, kaum beim Geradeausschauen). Nystagmus.

Fatigue (abnorme Ermüdbarkeit, normaler Tagesablauf kann nur erschwert bewältigt werden)

Kann ein Initialsymptom sein, eventuell sind fokale neurologische Symptome bei der Untersuchung feststellbar.

Selten liegen bei Krankheitsbeginn Kleinhirn-Symptome, Miktionsstörungen, kognitive Beeinträchtigungen, Schmerzen vor.

Quellen:

Baumhackl U: Multiple Sklerose. Prävalenz & Therapie im 12-Jahres-Vergleich in Österreich. Facultas 2014

Kip M, Zimmermann, Bleß HH (2016) Epidemiologie der Multiplen Sklerose. In: Kip M, Schönfelder T, Bleß HH. (eds) Weißbuch Multiple Sklerose. Springer, Berlin, Heidelberg, First Online 09 June 2016

Salhofer-Polanyi S, Cetin H, Leutmezer F, Baumgartner A, Blechinger S, Dal-Bianco A, Altmann P, Bajer-Kornek B, Rommer P, Guger M, Leitner-Bohn D, Reichardt B, Alasti F, Temsch W, Stamm T: Epidemiology of Multiple Sclerosis in Austria. Neuroepidemiology. 2017; 49 (1-2) : 40-44Multiple Sklerose. In: neuro 04|2018